OVS 8 Zeltgasse

Sonntag, Oktober 04, 2009

Das Bildungssystem ist vielfältig, manche Lehrerkritik einfältig

Die Schule wird mit Erziehungsaufgaben überfrachtet.

Jose! Aff*

Es ist eine bisher beispiellose Pole­mik gegen das Schulsystem: Wa­rum die Schule alles falsch macht", brachte es Profil werbewirksam auf den Punkt, „sinnloser Drill, klägli­che Pädagogik, verstaubtes Wis­sen, hilflose Lehrer", lautete die Di­agnose. Die mediale Wirkung sol­cher Berichterstattung wurde von der Boulevardpresse erhöht, in dem sich diese der „Gagenkönige Lehrer" annahm.
Die Schulen bilden in Summe das mit Abstand größte Non-Profit­-Unternehmen Österreichs, und selbstverständlich gibt es bei ei­nem derartigen bildungspoliti­schen „Riesentanker" in allen Be­reichen Mängel, die einen perma­nenten Reparatur- und Reformbe­darf erfordern. Fundamentalkritik, in der die Schule etwa mit einem Krankenhaus verglichen wird, in dem die Patienten nach mittelalter­lichen Methoden behandelt wer­den, hilft wenig. Gerade aus der Sicht der Berufsbildung, die in der Sekundarstufe II einen „Marktan­teil" von achtzig Prozent aufweist - was regelmäßig in der einseitig gymnasial orientierten medialen Berichterstattung ignoriert wird ­- sind folgende Feststellungen not­wendig, um das Bild, wonach sich das österreichische Bildungssys­tem mit der Diagnose "Totalversa­gen" auf der Intensivstation befin­det, zurechtzurücken.
· Während in der vorschulischen Erziehung und in der Sekundarstu­fe I (Hauptschule, AHS-Unterstu­fe) ein hoher Reformbedarf besteht, zeichnet sich die österreichische Sekundarstufe II (Oberstufe, Lehr­lingsausbildung) durch ein breites Portfolio an Schultypen im Spek­trum zwischen Berufsbildung und Allgemeinbildung aus.
Diese Vielfalt stellt im interna­tionalen Vergleich eine besondere Stärke des österreichischen Bildungssystems dar, weil sowohl für "schulmüde" Jugendliche mit dem dualen System eine attraktive Aus­bildungsschiene zur Verfügung steht als auch mit den Berufsbil­denden Höheren Schulen eine erfolgreiche Ver­knüpfung von Studierf1ähigkeit und Arbeits­marktqualifikation. Vor allem die Großbaustelle „vorschulische Erzie­hung" muss in der aktuel­len Bildungspolitik (Stichwort „kostenloser Kindergartenbesuch ", verpflichtender Kinder­gartenbesuch ab fünf) Be­rücksichtigung finden.
· Misst man die Leistungsfähigkeit eines Bildungssys­tems am Parameter, inwieweit es gelingt, die Übergänge von der Pflichtschule in die weiterführen­de Ausbildung (1. Schwelle) sowie von der Sekundarstufe II in die Be­rufswelt und/oder an Universitäten und Hochschulen zu gestalten, dann ist das österreichische Bil­dungssystem international in ho­hem Maße wettbewerbsfähig. Die seit Jahrzehnten - im Vergleich zu fast allen anderen OECD-Staaten ­viel geringeren Jungenarbeitslosenraten sind sicherlich auch auf diese Bildungsarchitektur der Se­kundarstufe II zurückzuführen.
· Berücksichtigt man die Befunde der Unterrichtsforschung, wonach der Unterricht mit maximal vierzig Prozent für den Lernertrag verant­wortlich ist und der (größere) rest­liche Anteil auf Einflussfaktoren wie Familie, soziales Umfeld, indi­viduelle Lernvoraussetzungen etc. entfällt, wird deutlich, dass sich El­tern und Gesellschaft nicht bloß auf eine Zuschauerrolle mit einer mehr oder weniger ausgeprägten "Zeigefingermentalität" zurückzie­hen können. Wenn der Autor bei seiner täglichen U-Bahn-Fahrt zum Arbeitsplatz die Lesegewohn­heiten der "Gesellschaft" (Erwach­sene und Jugendliche) hautnah er­lebt, indem er von Gratiszeitungs­lesern geradezu umzingelt wird, dann darf man sich bei diesem Vor­bild der Erwachsenen über die Le­seschwäche vieler Jugendlicher (ohne Migrationshintergrund] nicht wundern.
Ich gehöre zur Generati­on, die mit dem Kinder­buch Der Struwwelpeter aufgewachsen ist, dessen Inszenierung soeben im Burgtheater mit viel Ap­plaus bedacht wurde. Die Gesellschaft macht es sich zu einfach, den Schulen und Lehrern die Struwwelpeter-Rolle des Konrad zuzuordnen, in­dem sie unbewältigte ge­sellschaftliche Aufgaben im Spektrum zwischen Sexualerziehung und Erziehung
zum interkulturellen Denken an Schulen delegiert und diese da­durch geradezu strukturell über­fordern.
Besonders ärgerlich ist, dass metaphorisch gesprochen, die Ge­sellschaft - bei Ignorierung ihrer eigenen Verantwortung - in die "Schneiderrolle" schlüpft, indem sie die Schulen als Sündenböcke der "Daumenlutscherei" bezich­tigt. um dann mithilfe der Massen­medien den Lehrern beide Daumen gesellschaftlicher [Mindest-)Wert­schätzung für ihre pädagogische Arbeit abzuschneiden.

* Dr. Josef Aff ist Professor für Wirt­schaftspädagogik an der WU Wien.