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Freitag, September 16, 2011

Progressive Schullügen

Kolumne | Barbara Coudenhove-Kalergi , 14. September 2011 19:36

Das skandinavische Beispiel beweist, dass eine gute Gesamtschule eben nicht nur für die Schwachen gut ist, sondern auch für die Starken - Sie ist besser als unser Gymnasium

Niki Glattauer, Hauptschullehrer und Bestsellerautor, verpasst dem österreichischen Schulsystem in seinem neuen Buch Die Pisa-Lüge ein schallendes Nichtgenügend, inklusive der als Fortschritt gepriesenen Neuen Mittelschule. Seine Schlussfolgerung: Es wird nicht gehen ohne Gesamtschule. Wenn wir weiterhin Bildungskinder und Unbildungskinder strikt getrennt voneinander aufwachsen lassen, kommen wir aus der Misere nie heraus.
Glattauer ist ein ehrlicher Mensch und gibt offen zu, dass seine neunjährige Tochter in eine private Volksschule geht und später natürlich in ein Gymnasium gehen wird. Genauso halten es alle anderen fortschrittlichen Bildungsbürger, die zwar für die gemeinsame Schule der Sechs- bis Fünfzehnjährigen eintreten, aber natürlich für ihre eigenen Kinder das Beste wollen. Und das Beste ist derzeit halt doch das Gymnasium.

Wie passt das zusammen? Ist das Heuchelei? Nein, ist es nicht. Denn das skandinavische Beispiel beweist, dass eine gute Gesamtschule eben nicht nur für die Schwachen gut ist, sondern auch für die Starken. Sie ist besser als unser Gymnasium. Gäbe es sie auch in Österreich, würde auch die kleine Suzie Glattauer dorthin geschickt werden.

Glattauers Buch hat den Vorzug, dass es nicht nur die Pisa-Lüge anprangert (in den Rankings werden österreichische Lehrlinge, Hauptschüler, Sonderschüler und Repetenten mit finnischen Gesamtschülern verglichen), sondern auch andere fromme Lügen. Und zwar nicht nur die von konservativen Rettern des Gymnasiums, sondern auch die von politisch korrekten Gutmenschen.

Progressive Lüge 1, laut Glattauer: Die Neue Mittelschule ist ein konstruktiver Schritt in Richtung Gesamtschule. Stimmt nicht, sagt der Autor. Sie ist nur ein neues Namensschild für die alte Hauptschule, ein wenig aufgemotzt durch einen zusätzlichen Lehrer pro Klasse.

Progressive Lüge 2: Migrantenkinder sind nicht schlechter in der Schule als einheimische Kinder. Stimmt auch nicht. Sie sind sehr wohl schlechter, weil sie überwiegend aus der Unterschicht kommen und kaum Deutsch können. Aber dümmer sind sie nicht.

Die ÖVP, die Lehrergewerkschaft und deren bürgerliche Klientel stemmen sich gegen die Gesamtschule, weil sie, wie sie sagen, für Differenzierung nach Eignung und Begabung sind. Was sie wirklich meinen, formulierte eine Lehrerin so: damit unsere Kinder nicht "mit dem ganzen Ruaß" in eine Klasse gehen. Da ist was dran. Aber wenn die Mischung stimmt, Stärkere den Schwächeren helfen und ihrerseits stärker gefördert werden, geht es eben doch gut. Darüber sind alle Experten ziemlich einig - auch die Proponenten des Androsch-Volksbegehrens. Wie wir aus Glattauers Buch erfahren, hat es auch unter diesen Streit um das Thema Gesamtschule gegeben. Um niemanden zu verschrecken, kommt das Reizwort nicht vor, sondern der betreffende Passus im Text heißt nun "wir fordern ein sozial faires Bildungssystem, in dem die Trennung der Kinder nach ihren Interessen und Begabungen erstmals am Ende der Schulpflicht erfolgt".

Wieder ein österreichischer Kompromiss. Aber ich für meinen Teil werde, nach der Lektüre von Glattauers Buch, das Volksbegehren unterschreiben. (DER STANDARD; Printausgabe, 15.9.2011)

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